Geschäftsbericht der Strassenbahn Bielefeld für das Jahr 1919
Gas-, Wasser-, Elektrizitätswerk und Strassenbahn
für die Zeit vom 1. April 1919 bis 31. März 1920
Strassenbahn (19. Betriebsjahr)
Wie es angesichts der fortschreitenden Verteuerung sämtlicher Betriebsstoffe und der gehalts- und Lohnerhöhungen nicht anders zu erwarten war, schließt das 19. Betriebsjahr der Strassenbahn sehr ungünstig ab. Mit fortschreitender Entwertung des Geldes erreichten die Preise für Betriebs- und Unterhaltungsstoffe eine ungeahnte Höhe. Im Vergleich zur Vorkriegszeit stiegen z. B. die Preise für Schienen um 1550%, Bremsklötze um 1300%, Holz um 3000%, Fensterglas um 3000%, Ankerspulen um 2500%, Schmieröl um 4500%.
Die Ausgaben für Gehälter und Löhne stıegen von247.641 Mk. im Jahre 1913/14 auf 1.320.866 Mk.
Um die Eınnahmen mit den Ausgaben nach Möglichkeit in Einklang zu bringen, wurden am 8. Mai 1919 und am 1. Februar 1920 Fahrpreiserhöhungen vorgenommen, das erste Mal von 15, 20,25 Pfg. auf 20, 25, 30 Pfg., das zweite Mal auf 40, 50, 60 Pfg. Hierbeı wurde auch eine grundsätzliche Änderung in der Ausgabe der Wochenkarten getroffen. Während früher Wochenkarten mit Ermäßigungen bis zu 50% gegenüber dem gewöhnlichen Fahrpreis nur an Arbeiter verausgabt wurden, ist jetzt jeder bezugsberechtigt, dessen Staatseinkommensteuersatz 100 Mk nicht erreicht. Gleichzeitig wurde die Ermäßigung für Wochen- und Monatskarten auf 30% herabgesetzt.
Der Erfolg der Tariferhöhungen blieb aber weit hinter den Erwartungen zurück, da die Abwanderung erheblich größer war, als angenommen wurde. Sie betrug seit der letzten Tariferhöhung 22%. Hinzu kommt, daß der Verkehr wegen Kohlenmangels vom 9. bis 15.4.1919 von 6 Uhr abends ab, vom 16.4. bis 7.5.1919 sowie vom 11.1. bis 21.1.1920 vollständig eingestellt werden musste. Ebenso ruhte der Betrieb wegen des Generalstreikes vom 15. März mittags bis zum 18. März 1920 einschließlich. Ferner musste wegen Überschreitung der vom Reichskommissar für die Kohlenverteilung festgesetzte Strommenge auf Veranlassung der Kohlenwirtschaftsstelle Düsseldorf vom 8. März 1920 ab der Sechs-Minuten-Verkehr an den Vormittags- und Abendstunden auf Zwölf-Minuten-Verkehr herabgesetzt werden.
Die Betriebseinnahmen stiegen daher nur um 40,6%. Sie betrugen 1.874.980 Mk. und blieben hinter den Ausgaben um 312.576 Mk. zurück. Unter Hinzurechnung der Abschreibungen und Verzinsungen des Anlagekapitals ergab sich ein Fehlbetrag von 506.605 Mk.
Die Zahl der insgesamt beförderten Personen nahm im Berichtsjahr um rund 1 Million = 11,5% ab. Die kilometrische Leistung war infolge der erwähnten Betriebseinstellungen und Einschränkungen fast dieselbe wie im Vorjahr.
Die Aussichten für die weitere Entwicklung des Unternehmens sind denkbar ungünstig. Die Ausgaben werden auch im nächsten Jahr ganz erheblich weiter steigen. Gehälter und Löhne sind gegen den Jahresdurchschnittssatz des abgelaufenen Betriebsjahres zu Beginn des neuen schon um rund 50% höher. Die Auswechselung größerer Gleisstrecken, die während des Krieges und im vergangenen Jahr durch notdürftige Ausbesserungen zurückgehalten wurde, kann nicht mehr länger hınausgeschoben werden und erfordert große Beträge. Demgegenüber wird von weiteren Preiserhöhungen außer der am Schluss des Berichtsjahres beabsichtigten auf 50,75 und 100 Pfg. für die früheren 10-, 15- und 20-Pfg.-Strecken ein Ausgleich durch höhere Einnahmen nicht mehr zu erreichen sein, da insbesondere die Abwanderung der Fahrgäste der kurzen Strecken, die den größten Teil der Einnahmen bringen, dann so groß sein wird, dass auf Mehreinnahmen nicht mehr gerechnet werden kann. Die Folge davon ist, dass im kommenden Jahr mit einem Fehlbetrage zu rechnen ist, der eine Million erheblich überschreiten wird, selbst wenn die geplante, an die Grenze des wirtschaftlich Möglichen heranreichende Fahrpreiserhöhung noch eine nennenswerte Verbesserung der Einnahmen bringen sollte.
Man wird deshalb sobald der Erfolg der beabsichtigten Fahrpreiserhöhung feststeht, vor die Frage gestellt sein, sein ob der Fehlbetrag durch Steuern aufzubringen ist oder ob der Straßenbahnbetrieb weiter noch ganz bedeutend eingeschränkt oder bis auf den notwendigen Verkehr von der Stadt nach dem Sennefriedhof ganz stillgelegt werden soll.
An Unfällen wurden 35 gemeldet, 4 davon hatten erhebliche, 31 leichte Verletzungen zur Folge. Abgesehen von den bereits erwähnten durch Kohlemangel und Streik herbeigeführten Betriebseinstellungen kamen größere Betriebsstörungen nicht vor.
Die weiteren wirtschaftlichen und technischen Angaben sind aus den nachstehenden Aufstellungen und zeichnerischen Darstellungen zu ersehen.
Quelle: Jahresbericht des Städt. Betriebsamts Bielefeld. Gas-, Wasser-, Elektrizitätswerk und Strassenbahn für die Zeit vom 1. April 1919 bis 31. März 1920 (Stadtarchiv Bielefeld). Die Angaben in Klammern wurden zum besseren Verständnis ergänzt.