Langsam fahren - Erogene Zone!
Bielefeld, 10. Juni 1969: An einem warmen Sommertag wurde Helmut Beyer von diesem Auftritt eiskalt überrascht. Er hatte aber zum Glück seine Kamera dabei und hat zunächst diesen Schnappschuss gemacht.
Bild 1: Das erste Bild entstand an der Herforder Strasse. Wagen 894 ist gerade am Betriebshof Schildescher Str. gestartet und fährt gleich durch die kleine Bahnhofstrasse am Hauptbahnhof vorbei in Richtung Innenstadt. Offenbar hatte der Fotofgraf Angst vor einem „Oben-ohne-Bild“ und hat die Kamera nach oben verrissen und in der Aufregung doch glatt das Fahrgestell angeschnitten. Schade! (Foto: Helmut Beyer). |
Bild 2: Hier das irritierende Schild noch einmal in Großansicht (Foto: Helmut Beyer). |
17 Abiturienten hatten einen Einfall und die Stadtwerke spielten mit
Die braven Bielefelder mochten ihren Augen nicht trauen: Mit einer Drehorgel, einem 50-Liter-Faß Bier, einem Tonbandgerät und 17 Abiturienten des Ratsgymnasiums "an Bord" kurvte gestern eine girlandengeschmückte und lärmende Straßenbahn der im allgemeinen grundsoliden Bielefelder Stadtwerke kreuz und quer durch die Innenstadt. Wo er auch auftauchte, erregte der Schienen-Oldtimer vom Jahrgang 1925 unerhörtes Aufsehen: Kinder standen mit offenem Mund am Straßenrand und vergaßen, ihr Eis zu schlecken; verschiedene Erwachsene verpaßten gar ihre Straßenbahn über diese "Linie ohne Namen von anno dunnemals".
Man soll die Feste feiern wie sie fallen, sagten sich die jungen Neusprachler, die am vergangenen Freitag ihr Abitur mit Erfolg "gebaut" hatten, und gingen aus diesem Anlaß nicht etwa auf die Straße, was schließlich auch unbequemer gewesen wäre, sondern stiegen gleich in die Straßenbahn, in der sie dann ein spektakuläres "drive-in" veranstalteten.
Mit dem Drehorgel-Evergreen "Muß i denn, muß i denn, zum Städtele hinaus" startete das "fahrende Klassenzimmer" vom Betriebshof der Stadtwerke an der Schildescher Straße. Schon zuvor hatte sich der Pförtner über alle Maßen gewundert, als Bier und Würstchen angeliefert wurden, mit denen normalerweise eine Straßenbahn nicht bestückt wird.
"1. Klasse Abiturienten", "2. Klasse Flunzen" [Schimpfwort für Mädchen, das Ratsgymnasium war bis 1969 eine reine Jungenschule], "3. Klasse Sonstiges" konnten neugierige Beschauer entziffern. Da die meisten sich in dieser Reihenfolge nicht einzuordnen vermochten, verzichteten sie darauf, einzusteigen. Zumal ein weiteres Plakat "Die klassenlose Gesellschaft ist da" [richtig: "Die Klassenlose Klasse ist da". Ergänzung: Erst mit der Reform der Oberstufe im Jahr 1972 wurden die Klassen in der Oberstufe zugunsten eines Kurssystems abgeschafft - die Diskussionen um diese Veränderung gab es aber schon im Jahr 1969. CB] bereits Aufrührerisches verhieß. Den provozierenden Hinweis "Diese Kiste ist schneller als die Schulreform" ließen die Stadtwerke, die sich ein Mitspracherecht in Fragen der Ausstattung ausbedungen hatten, nicht durchgehen. Dabei macht der Oldtimer, der seit 1959 nicht mehr der Fahrgastbeförderung, sondern als Arbeitswagen dient, ohnehin wenig mehr als 50 Sachen. Die Fortschritte der Schulreform sind bislang – was ihre Geschwindigkeit anbetrifft, noch nicht so genau registriert worden.
Sobald die Straßenbahn auf Seitenwegen die zum Vorzugspreis von 20 Mark pro Stunde ausgeliehen worden war, durch nachfolgende Linien bei verschiedenen Rastplätzen ins Gedränge geriet, legte sie "einen Zahn zu" oder wich ganz einfach auf ein anderes Gleis aus. Fahrer Alfred Tschersich hatte alle Hände und Füße voll zu tun. Je nach Lage der Dinge fuhr er wieder einmal weiter oder wieder zurück: "Ich habe schon viel erlebt, so eine Fuhre aber noch nicht!"
An der Oelmühlenstraße stieg gar noch ein halbes Dutzend Cäcilienschülerinnen zu. Zu milden Drehorgelweisen und harten Beatrhythmen per Tonband gesellten sich Trillerpfeife, Glocken, Trompeten und Lärminstrumente jeder Art. Der Zapfhahn kam nicht zur Ruhe, das Bier floß in Strömen. Durstigen Mitbürgern reichten die mitfühlenden Exprimaner schon mal ein Glas heraus. An Ampeln und bei "Rot" versteht sich. An der Endstation Sieker endlich, auf einem Abstellgleis, wurden die Bratwürste auf den transportablen Gartenrost gelegt und an Ort und Stelle verzehrt.
(Dank an Ludger Kenning, der eine Kopie dieses Artikels im Archiv hatte und an die Zeitung NEUE WESTFÄLISCHE für die Genehmigung zur Wiedergabe).
Bild 3: Nach einem kurzen Sprint die Herforder Str. herunter gab es ein zweites Treffen mit dem Wagen – diesmal hat Helmut Beyer am Berliner Platz den Wagen formatfüllend aufgenommen. „Worauf warten sie noch?“ wird auf dem Plakat gefragt, über dem vergitterten Seitenfenster prangt das Wort "4. Klasse - Pauker". Das Transparent an der Seitenwand verkündet: "Die klassenlose Klasse ist da". Die Beschriftung "Rats" am Linienkasten gibt dann den Hinweis auf den Hintergrund der Aktion: Schüler des Ratsgymnasiums Bielefeld feiern in den ausgehenden 68er Jahren ausgelassen ihr Abitur (Foto: Helmut Beyer). |