Westfälische Zeitung vom 6. Februar 1959



Stadt will Strecke bis zum „Kahlen Krug" kaufen
Im Bahnhofsgebäude: Zwiebeln lösen Fahrgäste ab


„Kleinbahnlokomotive i.R." plaudert aus der Schule

Abstellgleis Kreisbahnhof, am 6.2.59

Lieber Leser allgemeinen,
liebe ehemalige Kleinbahnfahrgäste im besonderen!

Wer so viel Zeit wie ich und den ganzen Tag über nur noch nutzlos herumsteht, der hört und sieht allerlei, der macht sich seine Gedanken über das und über dies und jenes und er hat auch ab und zu das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Und das soll heute geschehen.

Ich bin ja gewissermaßen das letzte repräsentative Stück der Bielefelder Kreisbahn, nachdem meine Kolleginnen längst in Hochöfen Schönheit und Gestalt verloren, die Personenwagen auf Borkum und in Mannheim auf neuen Schienen laufen und die Schienen zum größten Teil verschrottet wurden. Genau genommen gehöre ich der Bundesbahn, die mich wie die gesamten Normalspurgleise bis zur Ziegelei Sudbrack gekauft hat. Aber offenbar hat sie keine Verwendung für eine solche eiserne Großmutter, wie ich es nun einmal bin, denn dem Casanova, der neulich im Vorbeigehen sagte: „Ist das aber ein hübsches Lokomotivchen!", glaube ich kein Wort.

Freilich, wenn ich die toten Gleise liegen sehe oder in das Bahnhofsgebäude blicke, in dessen Räumen die Bahnbeamten und die Fahrgäste von Zwiebeln, Aepfeln und Apfelsinen abgelöst wurden, dann ist mir doch recht traurig zumute, und ich sehne mich immer öfter nach dem Hochofen. Um so mehr habe ich mich gefreut, als in den Tagen der Scheeverwehungen und der vereisten Straßen neulich so mancher aus Jöllenbeck und Theesen, aus Werther und Deppendorf sich der guten alten Kleinbahnzeit erinnerte. Wenn ich noch die nötige Puste gehabt hätte, wäre mir´s auf einen lauten, fröhlichen Pfiff nicht angekommen aus Stolz darüber, daß ich nicht ein einziges Mal vor dem Schnee kapituliert habe. Im Vertrauen: Einmal bin ich aus Übermut aus den Gleisen gesprungen, aber das haben die meisten längst vergessen, wenn sie nicht inzwischen überhaupt schon gestorben sind.
Ihr seht es ja an meiner „Visitenkarte" auf dem oberen Bildstreifen, daß ich „Theesen" heiße, und darum ist es auch kein Wunder, wenn ich mich meinem Patenort besonders verbunden fühle. Dabei geht es mir vor allem um meine „Straße", auf der ich jahraus, jahrein bis zu meiner Pensionierung durch diesen Ort fuhr und die Theesener zur Arbeit und wieder zurück brachte. Jetzt wächst Gras, wo früher die Gleise sich vom Johannisbach bis hinauf zum Kahlen Krug schlängelten, und ich hatte schon größte Sorge, daß diese Verkehrsfläche umgepflügt würde und verlorenginge. Nun habe ich in diesen Tagen erfahren, daß die Verhandlungen mit der Stadt Bielefeld, die bereits die Kleinbahntrasse vom Kattenkamp bis bis zum Johannisbach kaufte, schon so weit gediehen sind, daß in Kürze mit ihrem Abschluß für das Stück bis zum Kahlen Krug gerechnet werden kann. Wenn auch zunächst das Gras lustig weiter wächst, so bleibt dieser „heimliche Verkehrsweg" doch seinem eigentlichen Zweck erhalten. Vielleicht fahren eines Tages Straßenbahnwagen oder Triebwagen auf unserer alten Strecke.

Worüber ich mich ärgere, das ist der Drahtverhau an der Johannisbachbrücke. Vor kurzem sagte einer: „Das sieht ja aus wie an der Zonengrenze!" dabei ist es doch nur die Grenze zwischen Stadt- und Landkreis, und es wird Zeit, daß dort der Drahtverhau beseitigt wird. Das hofft mit euch allen

Eure „Theesen"
(Kreisbahnlokomotive i.R.


rp.

(Anmerkung: Lok 9 THEESEN war für die regelspurigen Anschlußgleise rund um den Bielefelder Kreisbahnhof angeschafft worden. Auf den meterspurigen Kreisbahnstrecken konnte sie nicht eingesetzt werden, hat also den Ort "Theesen" nie erreicht).



Der Artikel wurde mit sechs Bildern illustriert. Bildlegenden:

Obere Bildleiste: Wo früher Fahrkarten verkauft wurden, duften jetzt Berge von Zwiebeln im Kleinbahnhofsgebäude an der Eckendorfer Straße. Kaum 50 Meter davon entfernt verbringt die letzte "Kleinbahnlokomotive i.R." ihre Tage auf dem Abstellgleis. Bildleiste unten: Wo die Kreisbahn über den Johannisbach dampfte, demonstriert zur Zeit ein Drathverhau die "Zonengrenze" zwischen Stadt- und Landkreis Bielefeld. Durch das alte Theesen (Mitte) führt der "gleislose Schienenweg" bis zum Kahlen Krug. Von dort führt er entlang der Straße nach Jöllenbeck, zu deren Verbreiterung ihn das Landesstraßenbauamt verwenden will.

Wiedergabe des Artikels aus der "Westfälischen Zeitung"
mit freundlicher Genehmigung der Zeitung NEUE WESTFÄLISCHE


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