Westfälische Zeitung vom 31. März 1951
Seit 50 Jahren unter Dampf
Jubiläum der Bielefelder Kreisbahnen - Treue Mittler zwischen Stadt und Land - „Gute Fahrt" in die Zukunft
Wahrscheinlich können wir uns heute nicht mehr annähernd vorstellen, welche Gefühle unsere Vorfahren an jenem 1. April vor 50 Jahren bewegten, als sie erfreut und staunend über den Fortschritt an dem noch funkelnagelneuen Schienenstrang der Kleinbahn standen und der erste Zug schnaubend und prustend gen Enger und Werther dampfte. Wenn wir heute dieses Tages gedenken, so genügt es nicht, sich lediglich mit einem Schmunzeln dieses Ereignisses zu erinnern und einzugestehen, daß das Sprichwort von der alten Liebe, die nicht rostet, auch im Blick auf die Kleinbahn zutrifft.
Sicher, wir haben wohl alle, die Bielefelder insbesondere, eine kleine Schwäche für die gemütliche, liebe gute alte Kreisbahn und das mit recht - aber mit dieser Einstellung allein ist es nicht getan. Denn es handelt sich schließlich um ein Wirtschaftsunternehmen, das unter Schwierigkeiten vor einem halben Jahrhundert ins Leben gerufen wurde, das zwei Kriege und die ihnen folgenden Krisenzeiten überstehen mußte und seit Jahren einen schweren Existenzkampf führt, dessen Schatten auch auf die goldene Fünfzig fällt. Und schließlich handelt es sich - das muß auch gesagt werden - um ein Verkehrs- und Transportmittel, das in diesem halben Jahrhundert seines Bestehens große Aufgaben gewissenhaft und zuverlässig erfüllte. Tausende Fahrgäste sind ein ganzes Leben lang mit „ihrer Kleinbahn" durch die Fahrt zum Arbeitsplatz verbunden. Hunderttausende Tonnen Güter werden in dieser Zeit vom Lande in die Stadt und aus der Stadt in die ländlichen Gemeinden befördert. Vergessen wir nicht, daß die Kreisbahn seinerzeit nicht geschaffen wurde, um Sonntagsausflüglern unsere schöne Heimat zu erschließen, sondern im Zuge der industriellen Entwicklung, die immer mehr Arbeitskräfte an die Industriestätten heranführte und auf der anderen Seite gesteigerte Absatzmöglichkeiten für landwirtschaftliche Erzeugnisse bot, die es zu erschließen galt. Diese Überlegungen führten auch im Jahre 1910 zum Bau des Bahnhofs an der Eckendorfer Straße mit dem Anschluß an die inzwischen eröffnete Bahnlinie Bielefeld - Lage. Um diese Verbindung mit dem Reichsbahnnetz in vollem Umfange wirksam werden zu lassen, wurde der Rollbockbetrieb eingerichtet und Tausende von Waggons Kohle, Saatgut, Kali und Sonstige Güter rollen seitdem jährlich in die ländlichen Gebiete der beiden Kreisbahnstrecken, während landwirtschaftliche Produkte und die Fertigwaren der vor allem in Jöllenbeck, Enger und Werther ansässigen Industrien an Ort und Stelle zum bahnfertigen Versand kommen können. Schon die Beförderungszahlen der ersten betriegbsjahres gaben den Erbauern recht: 414 207 Personen und 9482 Tonnen Güter. Der Handel mit den Landgemeinden nahm einen großen Aufschwung und bereits in den Jahren des ersten Krieges stieg der Personenverkehr stark an. 1918 überschritt er zum ersten Mal die Millionengrenze. In den Jahren des zweiten Weltkrieges - in diesem Fall ist die Erinnerung für uns alle noch recht eindringlich - gab es überhaupt nur noch die überfüllte Kleinbahn und sogar Güterwagen mußten eingesetzt werden, um den Anforderungen gerecht zu werden. Die Gegenwart stellt an die Kreisbahn schwerste Anforderungen im unerbittlichen Konkurrenzkampf der Verkehrsmittel. Die Verantwortlichen stellen der Verwaltung sind sich der Schwierigkeiten bewußt, die in den nächsten Jahren zu überwinden sind. Worum es geht, ist eben nicht ein „Stück gute, alte Zeit" oder eine „liebe Erinnerung", die man nicht gerne missen möchte, sondern ein Verkehrsbetrieb, der Aufgaben zu erfüllen hat und wirtschaftlich sein muß. |
Aus dieser Erwägung werden sich auch alle zukünftigen Entschlüsse zwangsläufig ergeben. Vielleicht wird die Kreisbahn eines Tages nicht mehr „dampfen", sondern elektrifiziert sein - dieser Gedanke ist durchaus nicht neu - entscheidend ist, daß sie die Krise dieser Jahre meistert und das ist aller Wunsch zu ihrem fünfzigjährigen Geburtstag!
Doch das möchten wir ihr selber sagen. Darum einsteigen zu einer Fahrt ins heimatliche Land! Vorbei geht´s an tiefgrünen Weiden mit grasendem Vieh, an Ackerflächen und knorrigen Wallhecken, an verlorenen Wiesen und stillen Tümpeln; über Bachbrücken und Feldwege poltert schaukelnd der Zug, jagt Hasen und Fasanen aus dem Gesträuch und läßt seine Pfeife durch kleine Gehölze hallen. Verträumt liegt Horstheide an der Strecke, die ersten Häuser von Jöllenbeck tauchen auf. Stämmige Bauernjungens holen Großvater von der Bahn ab. Unterwegs kommen wir mit dem Zugschaffner ins Gespräch. Schon seit 1909 ist er bei der Kreisbahn im Dienst. 2,50 Mark gab es damals pro Tag als Lohn, nicht gerade viel, aber man konnte mehr damit Anfangen als heute mit dem doppelten: Recht lebhaft wird „Willem", als er auf die Zeit vor der Währungsreform zu sprechen kommt. Kaum wußte sich die Bahn vor den vielen Hamsterern zu retten. Trotzdem ging alles gut. Auf meine Frage, wie lange die Fahrt nach Enger dauert, antwortet er lakonisch: „Na, ungefähr eine gute Stunde", und fügte entschuldigend hinzu, „sie hält ja auch bei jeder Milchkanne!" Er soll recht behalten, der gute Alte. In knapp einer Stunde hielt der Zug qualmend in Enger. Wir benutzen den Aufenthalt bis zur Rückfahrt, um die Werkstatt zu besichtigen, deren neuzeitliche technische Einrichtung allen Anforderungen gewachsen ist. Vier elektrisch betriebene Hebeböcke von je 20 Ton. Tragkraft besorgen das Hochheben der Lokomotiven von den Achsen, Preßluftgeräte, Schweißapparate und ein Lufthammer stehen für besondere Arbeiten zur Verfügung. Ein Gerätewagen mit den notwendigen Hilfsvorrichtungen steht für Unfälle ständig in Bereitschaft. Die Aufrechterhaltung des Betriebes war während der Zeit des Bombenkrieges überaus schwierig und gefährlich. Dem rückhaltlosen und vorbildlichen Einsatz der Belegschaft ist es zu verdanken, daß der Betrieb durchgeführt werden konnte und die Zerstörungen durch die Bombenangriffe schnell wieder beseitigt wurden. So konnte die Bielefelder Kreisbahn als erste ihrer Art in der britische Zone nach dem Zusammenbruch 1945 den Betrieb wieder aufnehmen. Durch den Verlust von über 1,6 Millionen Mark bei der Währungsreform gingen sämtliche Rücklagen verloren. Aus den täglichen Einnahmen müssen nicht nur die erhöhten Aufwendungen für die Durchführung des Betriebes, sondern auch der Erneuerungsbedarf aus den Kriegs- und Nachkriegsjahren gedeckt werden. Wir verabschieden uns und mächtig qualmend setzt sich der Zug in Richtung Bielefeld wieder in Bewegung. Langsam überwindet er die Höhen bei Pödinghausen. Aber wir können es verstehen. In der heutigen Zeit ist es nicht leicht, „über den Berg" zu kommen. Dazu zwei Bilder: Zug bei Theesen, Bildunterschrift: Heute wir vor fünfzig Jahren - die Kleinbahn bei Thesen / Portrait Schaffner Heienbrock, Bildunterschrift: "Willem" heißt er bei den Fahrgästen, als Wilhelm Heienbrock gehört er seit 1909 zum Personal der Kreisbahn, einer der Aeltesten. |
mit freundlicher Genehmigung der Zeitung NEUE WESTFÄLISCHE